Meine zwei Leben VI: Schlaflos
Meine zwei Leben VI: Momentaufnahmen einer schlaflosen Nacht oder die Angst vor dem Leben
Von ACD.
Die folgenden Zeilen schreibe ich direkt im Anschluss an eine schlaflose Nacht, in der mich der Umgang mit der eigenen Vergangenheit nicht losgelassen hat. Diese Nächte waren früher zahlreicher, doch manchmal – sowie heute – kommen sie wieder. Warum bin ich eingestiegen? Warum bin ich geblieben? Warum habe ich gesagt, was ich gesagt habe oder getragen, was ich getragen habe? Fragen, die oft schwer zu beantworten sind. In meiner Aufarbeitung habe ich den Hinweis bekommen: “Du möchtest der Realität entfliehen, um dich nicht mit dir selbst beschäftigen zu müssen.” Das waren wahre Worte, deren Bedeutung mir in der letzten Nacht wieder bewusst wurden.
Realität & Projektion
Den Wunsch, der Realität zu entfliehen, hatte ich schon lange. Quasi seit der Pubertät wollte ich immer jemand anders sein. Weil ich nicht wusste, wer ich war. Wer möchte schon der normale Junge von nebenan sein, wenn er der bekannte und verruchte “Bad Boy” sein kann? Damit fing es an und es zieht sich durch meine gesamte Biografie. Als junger Mann fand ich dann mit den Computerspielen wieder eine andere Welt, in die man eintauchen kann. Eine Welt, in der man jemand anderes sein kann, als man wirklich ist. Dann kam langsam die rechtsgerichtete Musik und der Reiz war wieder der gleiche: Anstatt ein normales Leben zu führen, wurden hier apokalyptische Fantasien heraufbeschworen. Fantasie-Welten beschrieben, die man durch die Musik und flunkern vor dem neuen Bekanntenkreis leicht aufrecht halten konnte. Dann kam die rechtsextreme Musik, insbesondere NSBM, also Nationalsozialistischer Black-Metal. Eine Bezeichnung für neonazistische Strömungen innerhalb der Black-Metal-Subkultur. Diese Spielart des Black-Metal vertritt eine nationalsozialistische Gesinnung und verarbeiten diese Ideologie in ihrer Inszenierung oder ihren Texten. Neben diesen überzeugten nationalsozialistischen Bands, gibt es darüber hinaus Bands, die weniger den Nationalsozialismus als vielmehr das Dritte Reich ausschließlich als brutales Geschichtsereignis verherrlichen. Das tun sie aus einer misanthropischen Position heraus oder aus einer ablehnenden Haltung gegenüber dem Christentum, das aus dem Judentum hervorging, welches von den Nationalsozialisten zu vernichten versucht wurde. Das Judentum, welchem verschiedenste Verschwörungserzählungen zugeordnet werden, ist eine konstante Feindbildkonstruktionen innerhalb der rechtsextremen Szene. Hier noch martialischere Bilder, noch klarere Welten und die Vorstellung, zu den “Guten” zu gehören, während die meisten die “Bösen” waren. Diese Erkenntnis kommt mir in der Verarbeitung immer wieder. Anstatt “nobel”, “anständig” und “treu” zu sein, habe ich stets geflunkert, um mich besser darzustellen. Letztlich habe ich getrunken und fremdprojiziert.
Wenn alles zerbricht
Wenn ich heute an den jungen Mann zurückdenke, der ich damals war, wird mir schlecht. So wie letzte Nacht. Ein wandelndes Stereotyp, mehr nicht! Jemand, der zwar nach außen bemüht ist, Stärke zu zeigen – doch unter der Oberfläche ein junger Mann, der seinen Alltag nicht geregelt bekommt. Weil ich nicht wusste, wer ich bin, versuchte ich jemand anderes zu sein, um so die “stillen Momente” des Alltags zu überstehen. Aber macht das nicht jeder? Wenn ich mir den Hype um die sozialen Medien und das dortige inszenierte Leben ansehe, könnte man den Eindruck gewinnen. Doch das Abtauchen in den Extremismus ist anders. Denn wo man sich vielleicht auf Facebook in einem schöneren Licht erscheinen lässt, um mehr “Follower” zu generieren, verliert man sich im Extremismus. Man verliert seine Persönlichkeit und Probleme des Alltags werden zunehmend schwerer zu lösen. Verlässt man die Szene, schlägt die Realität zu. Es fängt bei kleinen Sachen an. Wenn Freunde erzählen, dass sie vor Jahren mal für einen Austausch in Australien waren und dort ihre Frau getroffen haben, kann ich eigentlich nur schweigen. Viele stellen mir ihre jahrzehntealten Freunde vor. Diese habe ich nicht. Dann der Blick auf das eigene Selbst. Weg ist der Schutzmantel des “germanischen Kriegers”, der man zwar nie war, und was vor dem Spiegel bleibt ist nur ein Mann, der jahrelang einer Lüge gefolgt ist. Da ich in der Szene nie in Gruppen, Kameradschaften, Parteien oder Ähnlichem war, kann ich nicht beurteilen, ob dies dort noch intensiver ist. Was ich von anderen Aussteigern höre und lese, klingt es aber so. “Sektenartige-Strukturen”, so beschreiben manche Extremismus-Forscher die rechte Subkultur. Und ja, aus meinem Einblick ist da etwas dran. Man wird in die Sekte hereingeholt, wenn man jung oder unzufrieden mit seinem Leben ist. Das geschah bei mir durch Musik. Durch diese bewegt man sich dann weiter auf die Konzerte. Man nimmt einen einheitlichen Dresscode mit versteckten und nur für Insider erkennbaren Codes an. Man eignet sich einen speziellen Sprachduktus an. Glaubensvorstellungen und Verhaltensregeln, die durch die Musik und andere Mitglieder proklamiert werden, werden sich zu Eigen gemacht. Bis sie es dann nicht mehr sind und dann steht man da, schaut verwundert um und fragt sich: Wie konnte das nur passieren?
Alltägliche Herausforderungen
Für mich, wie hier ausgeführt, war es die Angst vor der Realität und einem “langweiligen” Leben. Was möchte ich eines Tages mal machen? Wie soll mein Leben in 15 Jahren aussehen? All das waren Fragen, mit denen ich mich nicht beschäftigen wollte. Somit suchte ich einen Ort, an dem all das keine Rolle spielte. Flüchtete in eine Fantasie-Welt, in der es um einen fiktiven Kampf zwischen einem kosmischen “Gut” und “Böse” ging. Das hat es für mich so reizvoll gemacht. Hier wurde nicht die Frage gestellt: Welche Autoversicherung ist die Beste? Wie kann ich für meine Wohnung einen neuen Kühlschrank kaufen? Mit diesen für die meisten Menschen einfachen Fragen war ich zu der Zeit schlicht und ergreifend überfordert und somit flüchtete ich. Besser wurden meine Probleme dadurch nicht. Sie wuchsen und wuchsen heimlich an, während ich sie gekonnt ignorierte und Weitere hinzukamen.
Vor seinen alltäglichen Herausforderungen will sicherlich jeder mal entfliehen. Doch bei dieser Flucht lief ich in die Arme einer gefährlichen Parallelwelt. Wäre ich damals schlauer gewesen, hätte ich einfach eine Lebensberatung oder meine Eltern gefragt, doch das habe ich mich nicht getraut.
Alle Beiträge von ACD. Die Beiträge von ACD gibt es auch übersetzt. Text 1 und Text 2.
Foto: Majestic Lukas / unslash