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Schattenseiten der Digitalisierung. Warum Medienethik im Extremismus-Kontext unverzichtbar ist.

Von Philip Baugut.

Am 9. Oktober 2019 will der damals 27-jährige Rechtsextremist Stephan B. in die Geschichtsbücher eingehen. In Halle fährt er an diesem Tag mit einem Mietwagen, beladen mit Waffen und Munition, zur Jüdischen Synagoge im Paulusviertel. Sein Ziel: Am höchsten jüdischen Feiertag Menschen töten – und die Welt dabei zusehen lassen: Mit seiner Helmkamera filmt er seine antisemitische Tat und streamt sie live auf der Plattform Twitch, einem bei Gamern beliebten Videoportal. Während laut Twitch nur fünf User live dabei waren und rund 2.000 Personen das Video aufgerufen haben, erhielt Stephan B. in den journalistischen Medien tatsächlich jene Massenaufmerksamkeit, die solche Taten tief ins kollektive Gedächtnis eingraben (Haase, 2019). Im abendlichen ARD-Brennpunkt sieht ein Millionenpublikum Ausschnitte aus dem Täter-Video – und auch im Rahmen der Berichterstattung über den Gerichtsprozess gegen Stephan B. sparen die Medien nicht mit Aufmerksamkeit für den Rechtsextremisten. Sie zeigen sein Gesicht, berichten, wie er kämpferisch ankündigt, eine lebenslängliche Haftstrafe werde ihn vom Kampf gegen die „globalistisch-jüdische Weltordnung“ nicht abhalten (Heine, 2020).

Ganz offensichtlich ist Extremismus in den Medien keine Randnotiz. Medien, die nach maximaler Publikumsaufmerksamkeit streben, kommen diesem Ziel näher, wenn sie Außergewöhnliches, Unvorstellbares, also buchstäblich Extremes liefern. Dass auch Terroristen eine größtmögliche Plattform zur Inszenierung suchen, macht Medien für sie attraktiv, wodurch eine unheilvolle Symbiose entstehen kann – nämlich dann, wenn die Verantwortlichen für die Medienprodukte eher ihre ökonomischen Ziele als ihre politische Verantwortung im Blick haben.

Um diese Verantwortung zu umreißen, bedarf es eines kommunikationswissenschaftlichen Blicks auf zwei Formen der Kommunikation, die hier schon illustriert wurden und in einer problematischen Wechselwirkung zueinanderstehen können: Propaganda und Berichterstattung. In beiden Fällen stellt die Digitalisierung eine Rahmenbedingung dar, die den Charakter dieser Kommunikationsformen nachhaltig verändert hat. Diese Rahmenbedingungen will dieser Beitrag zunächst skizzieren, bevor er auf ausgewählte Befunde zu Inhalten und Wirkungen von Propaganda und Berichterstattung im Extremismus-Kontext eingeht. Entsprechende Befunde machen deutlich, dass propagandistische und journalistische Medieninhalte nicht nur dann kritisch unter die Lupe zu nehmen sind, wenn es offensichtlich explizit um Extremismus geht. Im Sinne der Prävention verdienen gerade auch jene Medieninhalte Aufmerksamkeit, deren Problematik im Extremismus-Kontext weniger offensichtlich erscheinen mag. Der Beitrag unterstreicht mit Blick auf die journalistische Verantwortung schließlich, wie wichtig Medienethik ist.

 

Vollständiger Artikel:


Dr. Philip Baugut ist Professor für Journalismus an der Hochschule Macromedia. Nach seinem Studium der Kommunikationswissenschaft in München und Salzburg war er von 2010 bis 2021 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Forschungsschwerpunkte sind Medien im Kontext von Radikalisierung und Extremismus, politischer Journalismus und Medienethik.


 
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