Aussteigen aus dem Rechtsextremismus
Die Ausstiegsarbeit von EXIT-Deutschland
Von Bernd Wagner, Ulrike Krause, Fabian Wichmann.
In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist die Arbeit gegen Rechtsextremismus innerhalb einer differenzierten Träger- und Projektlandschaft auf zivilgesellschaftlicher Ebene auf- und ausgebaut sowie professionalisiert worden. Gleichzeitig hat sich die rechtsextreme Szene gewandelt – vor allem in Bezug auf ihre Organisationsstruktur, ihre öffentlichen Auftritte, ihre verstärkte Mitgliederrekrutierung gerade bei jüngeren Menschen und ihr zunehmendes Gewaltpotential. Die demokratische Gesellschaft ist dauerhaft herausgefordert, sich diesen Entwicklungen zu stellen und kontinuierlich neue Strategien und Ansätze zu entwickeln, um erfolgreich gegen den Rechtsextremismus steuern zu können.
„Ausstiegsarbeit ist neben präventiver Arbeit eine grundlegende Säule für die Eindämmung des Rechtsextremismus.“
Die Unterstützung von Ausstiegswilligen bei der Herauslösung aus der rechts- extremen Szene und beim Aufbau eines Lebens jenseits von Ideologie, Gewalt und rechtem Aktionismus hat positive Folgen für die Zukunft der einzelnen Person. Auch die Gesellschaft profitiert auf verschiedenen Ebenen von Aussteiger/ innen. Der Ausstieg von einzelnen Rechtsextremen kann zur Destabilisierung der rechten Szene beitragen und ist somit für die strategische Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus und die Grundverfasstheit einer demokratischen Gesellschaft entscheidend. Jeder einzelne Ausstieg ist daher ein Erfolg in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der rechtsextremen Szene.
Arbeit gegen Rechtsextremismus kann jedoch nur erfolgreich gelingen, wenn sie langfristig angelegt ist. Das gilt besonders für die Ausstiegsarbeit. Um Aussteiger/innen nachhaltig aus ihrem Umfeld herauszulösen, bedarf es langfristiger professioneller Begleitung. Kein/e Rechtsextremist/in steigt von heute auf morgen aus der Szene aus. Einem Ausstieg geht immer eine lange Auseinandersetzung mit Zweifeln an Ideologie und Idealen voraus. Auch der Prozess des Ausstiegs selbst kann Jahre dauern.
Grundsätzlich markiert der Ausstieg aus der rechtsextremen Szene einen Wendepunkt im Leben derjenigen, die sich dazu entschließen. Er ist oft verbunden mit dem Wunsch nach persönlicher Sicherheit, Bildung und Arbeit, gesellschaftlicher Einbindung sowie der Suche nach einem neuen Weltbild, nach Sinn und Orientierung. Ausstieg bedeutet dabei die kritische Reflektion und Aufarbeitung sowie das erfolgreiche Infragestellen und Überwinden der bisherigen handlungs- und richtungsweisenden Ideologie. Dafür ist es unabdingbar, bisherige Bezugsgruppen, Parteien und große Teile des sozialen Umfelds zu verlassen – ein Prozess, der den Betroffenen die Mobilisierung all ihrer Ressourcen abverlangt und sie schnell an die Grenzen ihrer Möglichkeiten bringt, wenn kompetente Ansprechpartner/innen und konstante Bezugspunkte fehlen. Um dem entgegenzuwirken und die soziale und berufliche Integration der Aussteiger/innen zu fördern, ist eine professionelle Ausstiegsarbeit notwendig, die nur auf einer langfristig finanziell stabilen Grundlage geschehen kann.
Die im Rahmen des XENOS-Sonderprogramms „Ausstieg zum Einstieg“ (2009 – 2014) geförderten Ausstiegsprojekte konnten durch die Förderung ihre jeweiligen Arbeitsansätze auf- bzw. ausbauen. Die Projekte widmen sich den unterschiedlichen und oft sehr komplexen lebensweltlichen, sicherheits- relevanten und ausstiegsbedingten Problemlagen und vermitteln individuelle Alternativentwürfe. Die Ausstiegsbegleitung ist in diesem Sinn nicht „klassisch“ präventiv, sondern eine Intervention mit einem schwerpunktabhängigen, generalpräventiven Ansatz hinsichtlich der Straffälligkeits- und Devianzvermeidung und des Gewaltverzichts. Die Gewichtung von präventivem und intervenierendem Ansatz ist bei den Projekten unterschiedlich. Auch die methodischen und konzeptionellen Arbeitsansätze der einzelnen Projekte weisen eine große Heterogenität auf.
Die Doppelstrategie der Deradikalisierung
Als EXIT-Deutschland im Jahr 2000 durch den Diplom-Kriminalisten und ehemaligen Kriminaloberrat Bernd Wagner und Ex-Naziführer Ingo Hasselbach ins Leben gerufen wurde, war dies die erste Ausstiegsinitiative für Rechtsextremisten in der Bundesrepublik.
Das Erfordernis der Gründung einer solchen Initiative ergab sich aus der Erkenntnis heraus, dass Rechtsextremisten, die sich mit dem Gedanken tragen, aus der Szene auszusteigen, diesen Schritt eher vollziehen, wenn sie Hilfe von außen signalisiert bekommen sowie aus der Notwendigkeit Ansätze zu entwickeln, die interventiv in die rechtsextreme Szene hineinwirken.
EXIT-Deutschland verfolgt mit seinem Ausstiegsprogramm eine Deradikalisierungsstrategie auf zwei Ebenen:
- 1. einen auf das Individuum abzielenden Ansatz, in dem es darum geht, die einzelne Person aus ideologischen sowie Gruppen- und Strukturkontexten herauszulösen und
- 2. einen gesellschaftlichen Ansatz, der darauf abzielt, dass der Ausstieg von Rechtsextremisten und ihre Abwendung von demokratie- und menschenfeindlicher Gewalt in Geist und Tat destabilisierend in die Szene zurückwirkt.
Im Verbund mit den Arbeitsbereichen Aktionsforschung, Situationsanalyse und Community Coaching des Zentrums Demokratische Kultur erfolgen also ausstiegsorientierte Interventionen in das rechtsextreme Feld hinein unter Einbezug des sozialen und familiären Umfeldes sowie kommunaler und medialer Installationen mit dem Ziel, die Einflusskraft von extremistischen Gruppen zu verringern und den ehemaligen Verfechtern von Ideologien und politisch‐motivierter Gewalt neue geistige und soziale Räume zu eröffnen.
In der Praxis arbeitet EXIT-Deutschland zumeist nachfrageorientiert. Über eine gezielte Öffentlichkeitsarbeit in Kooperation mit Printmedien, Funk und Fernsehen, Internetauftritten und Fachportalen wird auf das Angebot hingewiesen. Hinzu kommen zahlreiche Auftritte von Aussteigern in Schulen, Jugendclubs und Kommunen, die auch einen persönlichen Kontakt vor Ort ermöglichen.
Beraten und begleitet werden Ausstiegswillige sowie Eltern und Angehörige, deren Kinder sich in extremistischen Szenen befinden oder Gefahr laufen in diese abzudriften. Ein Ausstieg ist dann vollzogen, wenn die den bisherigen Handlungen zugrunde liegende Ideologie überwunden ist. Ausstieg aus dem Rechtsextremismus ist also mehr als das Verlassen einer Partei oder Gruppe, mehr als ein Wechsel der ästhetischen Ausdrucksformen oder Verzicht auf die Anwendung von Gewalt. EXIT-Deutschland unterstützt und begleitet die Abkehr von rechtsradikaler Ideologie, Hass und Gewalt inklusive der Aufarbeitung begangener Straftaten und fördert die Hilfe zur Selbsthilfe bei der Suche nach Arbeit oder Ausbildung. EXIT-Deutschland arbeitet bundesweit und regional- und fallbezogen mit Partnern vor Ort sowie anderen weiterhelfenden Stellen zusammen.
Ausgestiegene als Beratungshilfen
Als besonders hilfreich in der Ausstiegsarbeit erweist sich der Einbezug von Aussteigern in die Beratungspraxis selbst. Von ihnen können in den Ausstiegsprozess einbezogene Familienangehörige aus erster Hand lernen, wie die extremistische Szene funktioniert, vor allem aber auch, auf welchen Wegen und mit welchen kommunikativen Techniken Ausstiegsmotivationen entwickelt und provoziert werden können. Diese Gespräche sind fruchtbar, weil sie nicht auf der Ebene einer aufklärenden oder gar belehrenden Pädagogik geführt werden. Es sind stattdessen Gespräche mit Personen, die aus eigenem Erleben wissen, worüber sie reden. Es ist die Authentizität der Aussteiger, die Angehörige wie auch manche extremistisch orientierte Person zu überzeugen wissen, und: Ausgestiegene können Aussteigern helfen und sie auf Gefährdungslagen und Probleme, die im Ausstiegsprozess auftreten können, beratend begleiten.
Hilfen und Beratung erfolgen im Viereck von professioneller Ausstiegsunterstützung, Familie, gesellschaftlichen Institutionen sowie Ausbildung- und Arbeitsbetrieben. Ein Ausstieg kann nur erfolgreich gelingen, wenn diese Bereiche verantwortungsvoll mit dem Ziel der Integration des Aussteigers/der Aussteigerin in die demokratische Gesellschaft ineinandergreifen. In der Praxis ist dies nicht immer gegeben. Im Prozess des Ausstiegs sehen sich die betreffenden Personen mitunter Problemen gegenüber, die einen Ausstieg erschweren. Verfolgungsdruck der Szene auf der einen Seite, bürokratische Hürden staatlicher Stellen und ein immer unsensibler werdender Umgang mit dem Datenschutz in unserer Gesellschaft auf der anderen Seite können Aussteiger an den Rand dessen bringen, was vor allem psychisch, aber auch finanziell leistbar ist.
Wenn aus Vorurteilen Urteile werden und Urteilen Konsequenzen folgen – Perspektiven auf den Ausstieg
Generelle Probleme beim Ausstieg
Mit folgenden Problemen sind aussteigende Personen aus der rechtsextremen Szene konfrontiert:
- Bewältigung von Gefährdungslagen
- Sicherstellung der grundlegenden Existenzbedingungen (Wohnung, Ernährung, soziale Hilfen, gesundheitliche Aspekte, evtl. Suchtprobleme, ggf. Klärung des Schuldenstatus´)
- biografische Bewältigung der eigenen Vergangenheit, einschließlich begangener Straftaten
- Erarbeiten und Sichern von erfüllenden sozialen Beziehungen (neuer Freundeskreis, Suche eines neuen Partners, Wiederaufnahme von Kontakten zur Herkunftsfamilie, die in den meisten Fällen abgebrochen ist)
- Teilnahme am Arbeitsleben und am organisierten Lernen (Schule, Studium, Aus- und Weiterbildung)
- Bewältigung besonderer existentieller Lebenslagen aufgrund von konflikthafter Zusammenballung widriger, selbst- oder fremdverschuldeter Umstände, wie z.B Gefängnisaufenthalte
„Grad der Probleme richtet sich nach dem Alter der aussteigenden Person und deren Verweildauer in der Szene, ihrer Einbindung in Strukturen und Hierarchien sowie der Ausrichtung der jeweiligen Szene.“
Der Grad der Probleme richtet sich nach dem Alter der aussteigenden Person und deren Verweildauer in der Szene, ihrer Einbindung in Strukturen und Hierarchien sowie der Ausrichtung der jeweiligen Szene (Parteimitglied, Mitglied Freier Kameradschaften oder Freier Kräfte wie Autonome Nationalisten, Angehöriger anderer militanten Vereinigung wie Hammerskins o. ä.)
Sämtliche Probleme, die sich im Prozess des Ausstiegs ergeben können, treffen Frauen, insbesondere mit Kindern, in besonderer Weise.
Besondere Probleme beim Ausstieg von Frauen
Der Anteil von Frauen in der rechtsextremen Szene wird auf ca. 20-30 Prozent geschätzt – nach statistisch nicht gesicherter Erfahrung, wobei der Anteil innerhalb der einzelnen rechtsextremen Gruppen variiert. In völkischen Gruppen dürfte das Geschlechterverhältnis weitgehend ausgeglichen sein – hier steht die Familie im Zentrum der Organisation, während der Frauenanteil in militanten Gruppen geringer ist. Die genannten Relationen zeigen sich auch im Anteil der Frauen in von EXIT-Deutschland begleiteten Ausstiegsprozessen.
Die Einstiegsmotivationen von jungen Frauen (wie zum Beispiel Suche nach Kameradschaft, Anerkennung, national(sozialistisch)er oder völkisch-germanischer Gemeinschaft, Ausländerhass, antisemitische Einstellungen sowie der Wunsch nach politischer Betätigung) unterscheiden sich im Wesentlichen nicht grundsätzlich von denen junger Männer. Bei den Ausstiegsgründen lassen sich jedoch bei Frauen Gründe feststellen, die spezifisch etwas mit der Rolle als Frau und dem Familienbild zu tun haben.
In den vergangenen 20 Jahren haben sich rechtsextreme Frauen bisher vorwiegend männlich dominierte Betätigungsfelder erschlossen, haben sich zunehmend politisiert, sind qualifizierter und treten selbstbewusster in Erscheinung. Sie wollen innerhalb rechtsextremer Strukturen anerkannt werden als gleichberechtigte, aktive Kämpferinnen für „Volk und Vaterland“ neben den Männern. Dabei versuchen sie (nicht einheitlich und in unterschiedlichen Ansätzen und Begründungen), das tradierte Rollenverständnis der Frau als Mutter und „Hüterin der Rasse“ zu erweitern mit Berufstätigkeit und politischer Aktivität und ringen dabei um Akzeptanz als gleichberechtigte Partnerin.
Frauen können sich in vielen Feldern zwar betätigen, sind jedoch immer auf die prinzipielle Zustimmung ihrer Männer angewiesen, haben sich in letzter Instanz dem Willen der Männer unterzuordnen. Wo Frauen sich jenseits der Akzeptanz des Mannes betätigen wollen, werden sie sehr schnell und konsequent in die ihnen zugewiesenen Schranken verwiesen, auch mittels Gewalt. In der Lebenswirklichkeit innerhalb rechtsextremer Strukturen haben es Frauen mit einer strikten Hierarchie unter einer Dominanz der Männeridentität zu tun und erleben klare Rollenzuschreibungen und eine Abwertung ihrer Rolle als Frau.
„Sexismus und Gewalt gegen Frauen innerhalb der Szene sind keine Ausnahme, eigenständiges Denken wird mit Argwohn betrachtet, selbstständiges Handeln ausgebremst.“
Sexismus und Gewalt gegen Frauen innerhalb der Szene sind keine Ausnahme, eigenständiges Denken wird mit Argwohn betrachtet, selbstständiges Handeln ausgebremst. Die Erwartungen vieler Frauen hingegen, dass der Mann einen gleichwertigen Anteil am Familienleben erbringt, werden jedoch in der Regel enttäuscht. Aussteigerinnen berichtet darüber, dass sie von den zahlreichen Aufgaben, die von ihnen erwartet wurde, häufig überfordert waren. Neben Haushalt und Kindererziehung leisten Frauen politische Arbeit in vielen Bereichen: sie publizieren, organisieren Veranstaltungen, nehmen an Demonstrationen teil, bereiten Schulungen vor, arbeiten im Versandhandel, etc. Frauen agieren vor allem im Hintergrund, wenn es den Männern vorteilhaft erscheint, auch öffentlich. Ihre Arbeitsleistung wird von den Männern nicht nur gern in Anspruch genommen, sondern vielfach auch erwartet.
Frauen innerhalb rechtsextremer Strukturen können nur in diesen leben, solange sie nicht aufbegehren und sich in die ihnen zugewiesenen Rollen fügen oder sie diese selbst in dem Maße vertreten, dass anderweitige Ansprüche oder Wünsche gar nicht zum Tragen kommen. Auch bzgl. der Kindererziehung müssen die Frauen mit dem rechtsextremen, nationalistischen Erziehungsmodell konform gehen. Erziehung von Kindern bedeutet hier nicht die Förderung von Kompetenzen zur Ausbildung einer individuellen Persönlichkeit, sondern Erziehung zur Radikalität und Unterordnung unter die rechtextreme Ideologie und hierarchische Strukturen, was bei abweichendem Verhalten mit Bestrafung, auch gewalttätiger, einhergeht. Im Sinne einer Verwertungslogik werden Jungen auf ihre Rolle als politischer Soldat vorbereitet, Mädchen auf ihre Rolle für Reproduktion und Arterhaltung. Wenn jedoch die Vorstellungen bzgl. des Familien- und/oder Frauenbildes zu stark von denen der Männer abweichen und wenn dann noch Gewalt ins Spiel kommt (v.a. gegen die Kinder), ist dies für die Frauen oft der Grund für einen Ausstieg. Innerhalb der Strukturen haben sie keine Aussicht auf Veränderung, da eine offene Thematisierung von häuslicher Gewalt oder gar polizeiliche Anzeigen sind tabu.
Für Frauen und im Besonderen mit Kindern ergeben sich im Ausstiegsfall nicht nur die genannten multiplen Problemlagen in besonderer und verstärkter Weise, sondern außerdem sind weitere, ausstiegshemmende Faktoren vorgelagert.
Dazu zählen unter anderem psychische Einschüchterung, auch unter Anwendung von Gewalt, Zerstörung der Fluchtvoraussetzungen durch Sperren von Konten und Bewegungsmitteln, Wegnehmen von Pässen, Ausweisen, Autoschlüsseln, Isolieren der Frau in sozialen Zusammenhängen, z.B. durch Herausnehmen der Kinder aus dem Kindergarten, durch öffentliche Diffamierung der Frau, Manipulation der übrigen Familienmitglieder gegen die Frau. Diese Faktoren sind gängige Mittel, die eingesetzt werden, um Frauen, die die Szene verlassen wollen, einzuschüchtern und ein Entfernen aus dem Zugriffsbereich der Szene zu verhindern. Sofern eine Frau derartige Hindernisse überwunden hat, wobei sie auf Hilfe von außen nicht zählen kann, da staatliche Strukturen wie Ämter, Familienhilfen oder Polizei auf derartige Ausstiegsfälle nicht vorbereitet sind, gilt es, die in den Punkten 1-5 genannten Schwierigkeiten selbstständig zu meistern.
Bestrafung und Verfolgung der Aussteigenden durch die rechtsextreme Szene
Sofern die Bemühungen der Rechtsextremisten, die ausstiegswillige Person an einem Verlassen der Szene zu hindern gescheitert sind und die Schaffung einer räumlichen Distanz gelungen ist, setzt in der Regel eine Diffamierungskampagne in Personennetzwerken, bei Treffen und einschlägigen Internetforen ein. Generell wird Aussteigern unterstellt, dass sie z.B. keine Bedeutung innerhalb der Szene hatten, sowieso nie hinter der „Sache“ gestanden hätten, gescheiterte Schläger und psychisch labile Existenzen gewesen seien, die nur von der Gnade gelebt und sich daran erhöht hätten. Sie seien Psychopathen, die sich einen Raum für das Ausleben ihrer schädlichen und verräterischen Obsessionen gesucht hätten. Es sei nicht schade um sie, deswegen können und müssen sie zum Freiwild erklärt werden. Ernsthaft geläuterte Rückkehr in den Rechtsextremismus ist umstritten. Es folgt ein Zyklus, der Drohungen, Diffamierungen und direkte körperliche Angriffe, die bis auf eine Tötung hinauslaufen können, enthält. Den Aussteigenden wird mit allen erdenklichen Mittel „klargemacht“, was es heißt, sie zu bestrafen: Anrufe, Drohkulissen in der Öffentlichkeit, Ansprechen und Bedrohen von Kontaktpersonen wie Arbeitgeber oder Verwandte, Missbrauch der Identität von Aussteigenden und Bestellen von Waren, Abschließen von Verträgen, Abbestellen von Strom und Telefon, Überfälle, Prügel und Folter u.a sind im Arsenal. Auch Sprengmittel sind schon zum Einsatz gekommen und Fahrzeuge manipuliert worden.
Ausstieg – die Dissidenz in Geist und Tat, ist gleichbedeutend mit „Verrat an der Sache“, an der historischen Mission, der mit Feme, also Bestrafung, zu beantworten ist. Des Ausstiegs Verdächtige müssen bereits präventiv gestraft werden, um sie und andere von einem Ausstieg abzuschrecken, oder Abtrünnige sind so zu bestrafen, dass sie den Ausstieg abbrechen oder für seine Vollendung büßen müssen. Gesundheit, Persönlichkeitsrechte (Freiheit) und Menschenwürde werden vorsätzlich massiv verletzt bis hin zum Tod, der in Kauf genommen oder vorsätzlich begangen wird.
„Die Art und Intensität der Feme richtet sich danach, in welchen Strukturen und in welchem Status sich die betreffende Person befand, wie lang und wie tief sie verstrickt war und dementsprechend über szeneinternes Wissen verfügt und zu einer Gefahr z.B. bei polizeilichen Aussagen werden könnte.“
Die Art und Intensität der Feme richtet sich danach, in welchen Strukturen und in welchem Status sich die betreffende Person befand, wie lang und wie tief sie verstrickt war und dementsprechend über szeneinternes Wissen verfügt und zu einer Gefahr z.B. bei polizeilichen Aussagen werden könnte. Insofern gibt es Personen, die nicht der Feme anheimfallen, weil sie als unbedeutend eingestuft werden oder sie sich über eine tolerierte Legende aus dem Spektrum der Bewegung entfernt haben. Andere dagegen lösen Dauerstress und Dauerhass aus und bedingen vielfältige Maßnahmen der Aufenthaltsermittlung sowie der Vorbereitung und Durchführung von Femehandlungen. Dazu gehören offene und legendierte Ermittlungen und Observationen in Ämtern, Wohngebieten, Postfirmen, Polizei, Krankenkassen, Kindereinrichtungen, Schulen, medizinischen Einrichtungen, Einwohnermeldeämtern, KfZ-Zulassungsstellen, Handelsregister, Rentenversicherung, Gewerberegister, Handwerkerrollen, Arbeitsagenturen, Internetrecherchen und -veröffentlichungen, Datenbanken, Erstatten von (Vermissten)Anzeigen (Scheinanzeigen), Zivilrechtsklagen u.a.. Bei der Verfolgung werden überregionale Netzwerke und das Internet genutzt. Das Vorgehen kann dem einer polizeilichen Zielfahndergruppe entsprechen.
Äußerst problematisch kann es werden, wenn bei einer Aussteigerin mit Kindern der Kindesvater Bestandteil der Szene ist und auf offiziellen, juristischen Wegen ein Sorge- oder Umgangsrechts für sich reklamiert. Hieraus ergeben sich bislang von der deutschen Justiz, den Polizeien und Verfassungsschutzdienststellen unbeantwortete Fragen in Bezug auf die persönliche Sicherheit der Mutter vor dem Hintergrund von Femehandlungen und der ständigen Bedrohung gegen sie sowie der Kindern in Bezug auf Fragen der Kindeswohlgefährdung aufgrund einer angestrebten Erziehung im Geiste des Nationalsozialismus unter dem Deckmantel der Vaterliebe und der Vaterrechte. Es steht die Frage der Rechte der Kinder auf eine Entwicklung in demokratischer Freiheit und Würde, jenseits von Extremismus und Gewalt, was derzeit durch den Staat nicht gewährleistet wird.
Aber auch ohne diese extreme Form der Verfolgung haben Frauen mit Kindern erhöhte Schwierigkeiten im Ausstiegsprozess. Sie sind zu beständigem Misstrauen und zur sozialen Vorsicht verdammt, sie werden in ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung beschnitten und müssen sich selber einschränken, Leben in Verstecken ist die Parole. Ständig haben sie gewahr zu sein angegriffen zu werden oder Stalking-Opfer zu sein. Job und Ausbildung können nicht unbefangen gesucht und ausgeübt werden. Dadurch ist die Gefahr eines Hartz IV-Lebenslaufes groß. Öffentlich einsehbare Tätigkeiten mit Publikumsverkehr oder Medienkontakt fallen weitgehend aus. Auch Kunst und Kultur, medizinische Berufe, Gastronomie und Eventbetriebe, präsenzgebundene Tätigkeiten an Schulen und Ausbildungsstätten sind problematisch, wenn eine Bedrohungslage besteht.
Ein erhebliches Problem sind Hinterlassenschaften von Informationen in Computern und Akten der Arbeitsagenturen oder Jugendämter, über die Verfolger und Gefährder Aufenthalte und persönliche Umstände der Aussteiger in Erfahrung bringen können. Der Daten- und Persönlichkeitsschutz ist somit ein wichtiges Thema im Ausstiegsprozess. Datenschutz betrifft auch die Situation der Kinder, in deren Schulakten nichts zum Leben, den Zugehörigkeiten zu rechtsextremen Zusammenhängen und den Ausstieg zu suchen haben. Auch die Pausenhöfe, Lehrer- und Klassenzimmer sind dafür die Verhandlungsorte. Dadurch werden Kinder stigmatisiert und gar gefährdet, in dem sie in eine Haftungsgemeinschaft mit den Eltern gezwungen werden. Solche tatsächlichen Fälle sind schwere Schläge gegen die Freiheitsrechte und die Entwicklung von Kindern.
Frauen und auch (alleinerziehende) Väter haben mehrere Probleme im Umgang mit ihren Kindern und ihrer Erziehung zu bewältigen. Sie müssen Trennungen und die Gründe dafür ehrlich erklären, wenn Verwandte in der rechtsextremen Szene zurückbleiben, warum es zu Lebenseinschränkungen durch Verfolgung und Gefährdung kommt, und sie müssen ein Bild von sich selbst, ihrer Biografie nachvollziehbar vermitteln. Das sind schwierige Unterfangen, bei denen Rat und Hilfen willkommen sind. Es ist auch eine Anforderung an sich selbst, nicht nur an die Kommunikation mit den Kindern. Die eigene Rolle kann nicht als glanzvoll dargestellt werden, soll aber erfahrbar sein, ohne die Liebe des Kindes zu verlieren. Eine Anfechtung ist deshalb immer auch, wenn Aussteigende im Gefängnis waren. Die Vergangenheit tritt beständig in die Gegenwart, aber sie soll die Zukunft nicht bestimmen. Besonders wichtig ist es, den Kindern mitzuteilen, warum Mutter oder Vater Rechtsextremist wurden und vor allem, warum sie diesen Weg verworfen haben.
Jede Lebenssituation hält für Ausgestiegene neue Probleme bereit, die sich aus der Vergangenheit ergeben. Wichtig ist es, dass sie bewusst werden und gezielt Lösungen erarbeitet werden. Sich treiben lassen ist ein schlechter Ratgeber. Eine innere Struktur im Rahmen der persönlichen Voraussetzungen ist von entscheidendem Wert. EXIT-Deutschland setzt auf diese Kompetenzen und hilft sie zu entwickeln. Arbeit mit EXIT ist aus der Sicht der Aussteigenden zuerst Arbeit an sich selbst. Trotzdem ist gerade für Frauen die Lage der Umstände nicht selten hoffnungslos, da Staat und Gesellschaft übergroße Hürden auftürmen. Nicht zu verzweifeln ist für diese Frauen und auch für EXIT-Deutschland ein ganz einfaches Gebot der Stunde.
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Weiterführende Literatur
- B. Wagner (2020): Die personale Radikalitätsmetamorphose. Journal EXIT-Deutschland, Berlin. Online
- B. Wagner (2020): „Ich will raus“ – Deradikalisierung und Ausstiegsarbeit mit Rechtsextremisten. In: Dierk Borstel und Kemal Bozay (Hg.): Kultur der Anerkennung statt Menschenfeindlichkeit. Antworten für die pädagogische und politische Praxis. Weinheim, Basel: Beltz Juventa, S. 269–308.
- B. Wagner, U. Krause, F. Wichmann, F. Benneckenstein (2020) Jubiläumsheft 20 Jahre EXIT-Deutschland. ZDK Gesellschaft Demokratische Kultur gGmbH, Berlin. Jubiläumsheft_20Jahre EXIT-Deutschland.pdf
- B. Wagner (2020) Die Botschaft: Ehemalige Rechtsextreme in der schulischen Bildung – Eine Erfahrungsskizze. In: Frühere Extremisten in der schulischen Präventionsarbeit. Perspektiven aus Wissenschaft und Praxis. Bonn. Online abrufbar unter
- B. Wagner, T. Fischer (2019) Risiko Radikalität. Bewerten im Beratungsalltag. Handreichung für soziale und psychologische Berufe. Edition Widerschein, Schriftenreihe Zentrum Demokratische Kultur, Berlin. Mehr erfahren
- U. Krause; F. Wichmann (2019) Kein EXIT ohne EXIT – Ausgestiegene über EXIT-Deutschland. Begleitpublikation zum EXIT Salon „Radikal anders“. ZDK Gesellschaft Demokratische Kultur gGmbH, Berlin. Download PDF
- M. Logvinov (2019) Risikoeinschätzung Radikalisierter und Risikomanagement in der Fallarbeit Prognoseinstrumente und ihre Relevanz aus praktischer Sicht. Schriftenreihe Zentrum Demokratische Kultur, Edition Widerschein, Berlin. Mehr erfahren
- M. Logvinov; T. Fischer (2019) Risiko- und Gefahrenbewertung im Umgang mit politisch-ideologisch-religiös radikalen Personen. Edition Widerschein, Schriftenreihe Zentrum Demokratische Kultur, Berlin. Mehr erfahren
- F. Benneckenstein, M. Scheffler, S. Rochow, F. Wichmann (2018) Wenn aus Vorurteilen Urteile werden und Urteilen Konsequenzen folgen. Perspektiven auf den Ausstieg. In: Ausstiege aus dem Extremismus im Prisma diverser Perspektiven. Journal EXIT-Deutschland, Berlin. Online abrufbar
- F. Wichmann; F. Benneckenstein (2017) Einmal Nazi, immer Nazi? Arbeit und Erfahrungen von EXIT-Deutschland in der Ausstiegsbegleitung In: Nie wieder. Schon wieder. Immer noch. Rechtsextremismus in Deutschland seit 1945, Katalog zur Ausstellung 29.11.2017–02.04.2018, Herausgegeben von Winfried Nerdinger in Zusammenarbeit mit Mirjana Grdanjski und Ulla-Britta Vollhardt, Metropol Verlag, Berlin.
- Wagner, Wichmann, Krause (2014) AUSSTIEGSBLÄTTER – Hinweise zum Ausstieg mit EXIT-Deutschland Hg. ZDK Gesellschaft Demokratische Kultur gGmbH, Berlin.
- Bernd Wagner (2014) RECHTSRADIKALISMUS Junge Rechtsradikale im Strafverfahren Auflagen und Weisungen – Möglichkeiten und Grenzen in der Deradikalisierung Hg. ZDK Gesellschaft Demokratische Kultur gGmbH, Berlin.
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