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Die personale Radikalitätsmetamorphose

Von Dr. Bernd Wagner.

Der folgende Aufsatz ist ein Bestandteil einer größeren Auswertung zum Risiko und der Gefährdung durch das Denken und Handeln extremistischer Personen und Personen- zusammenhänge, die einen extremistischen Kontext bilden und aktiv kämpferisch den demokratischen Verfassungsstaat, seine Bürger und die demokratische Kultur attackieren, um eine Gesellschaftsumwälzung im Sinne ihrer jeweiligen extremistischen Mission zu bewirken. Dabei wurden insbesondere die Erfahrungen der Ausstiegshilfe und der aus extremistischen Bewegungen und Gruppen Austeigenden aufgearbeitet.

Personen, die in radikalen Denkmustern und Szenezusammenhängen integriert sind, durchlaufen unterschiedliche Phasen der Radikalität und eine Metamorphose auf verschiedenen Ebenen. Das geschieht in den Dimensionen der Ideologie und Politik, der Dynamiken der extremistischen Personenzusammenschlüsse und der missionsgebundenen Prozesse der Aggression und Gewalt zur Durchsetzung der politischen sowie kulturellen Ziele und zur Feindbekämpfung.

Die Entwicklung der einzelnen Personen zu extremistischen und auch terroristischen Akteuren geschieht in einem extremistischen Kontext, in den die Personen unmittelbar oder zumindest vermittelt integriert sind. Dabei erfüllen diese Personen unterschiedliche Rollen und Funktionen, die sich in den Radikalitätsphasen während der extremistischen Karriere zeigen.

Die Radikalitätsmetamorphose lässt sich auf den ersten Blick anhand der biografischen Ereignischronologie einer radikalen Person in Phasen beschreiben. Sie treten erkennbar für den geübten Beobachter hervor, treten jedoch selten in reiner äußerlicher Form, dagegen teilweise parallel in Erscheinung, verbunden mit Pendelbewegungen der Impulse und seelischen Zustände der Persönlichkeit der Extremisten. Für im Umgang mit Extremisten Ungeübte, unterscheiden sich diese Personen daher äußerlich selten von anderen. Gerade die Äußerlichkeit lässt schnelle Fehlschlüsse zu und verleitet zu counter-indikativen Politiken. So wurde über zwanzig Jahre die rechtsradikale „Kultursubversion“ weitgehend ausgeblendet und das Bild der zu pädagogisierenden „liebesbedürftigen, stiefelbewährten, alkoholisierten, grölend schlagenden Naziskinheads“ wirklichkeitsverdrängend beschworen – eine Metapher der Medienlandschaft und der deutschen „Jugendforschung und -pädagogik“, die sich dem Ernst der deutschen Entwicklung des Rechtsextremismus weiland in den 1990er Jahren politisch elegant entzogen haben. Das wirkte sich nicht selten fehlorientierend und sozial negativ auf den gesellschaftlichen, insbesondere politischen und staatlichen Umgang mit der Rechtsradikalität aus, deren Entwicklung wir heute entfaltet erleben dürfen.

Das Wissen um die Phasen der Radikalität von Personen und des Radikalitätsverlaufs ist ein Anknüpfungspunkt für die Analyse und Maßnahmenbestimmung, die Berechnung von Chancen und Risiken des Bemühens. Folgend wird aus der Beobachtung und Auswertung von über 800 Fällen von Ausstiegen aus radikalen Kontexten aus den Phänomenbereichen des „deutschen“ und des migrantischen1 Rechtsextremismus (EXIT-Deutschland) und des Islamismus (Beratungsstelle HAYAT) – einbezogen wurden Einzelfälle aus den Bereichen der „Rocker“, des „Satanismus“ sowie des „Linksextremismus“ – ein Phasenmodell vorgestellt, das sich über die Fallauswertung und über mehr als 20 Jahre aus der Empirie vermittelt. Alle Phänomenbereiche weisen eine Analogie auf. Es zeigen sich drei Grundphasen sowie eine Rückfallphase, die valent sein kann. In der Phase 2, der Radikalitätsphase, sind sechs Erlebens- und Seinsphasen auszumachen, die jeweils unterschiedliche Bedeutungsbotschaften enthalten. Sofern die Re-Radikalisierung ausfällt, geht der unmittelbare Ausstieg, das geistige, mentale Verlassen der radikalen Organisations- und Bindungsstruktur, in die Integrationsphase, den Übergang in die Welt der demokratischen Kultur, sofern vorfindbar, fließend über.

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Autor

Dr. Bernd Wagner ist Diplom-Kriminalist, der sich seit 1974 mit dem Rechtsradikalismus in östlichen und westlichen Gesellschaften praktisch und wissenschaftlich befasst hat. In der DDR und in der BRD war er leitender Kriminalpolizist, zuletzt im Range eines Kriminaloberrates, ab 1990 im Staatsschutz des Gemeinsamen Landeskriminalamtes der Neuen Bundesländer (GLKA). Er war nach 1990 in verschiedene politische und soziale Programme auf der Ebene des Bundes und von Ländern gegen Radikalismus eigebunden sowie wissenschaftlich, politisch und auf der Ebene der Bürgergesellschaft mit professionellen Projekten aktiv. So prägte er die Mobile Beratung (MBT) in Ost-Deutschland und wesentliche Paradigmen und Methoden, wie das Community Coaching wesentlich mit. Er initierte 1997 das Zentrum Demokratische Kultur, 2000 mit Ingo Hasselbach – einem ehemaligen Naziführer – die Initiative EXIT-Deutschland, 2007 die Zeitschrift Journal-EXIT-Deutschland, 2010 mit der Islamexpertin Claudia Dantschke die Arbeitsstelle Islamismus und Ultranationalismus und 2012 die Initiative HAYAT-Deutschland. Er verfasste zahlreiche Texte zum Rechtsradikalismus und war in Bildungszusammenhängen tätig. Er promovierte an der Europa Universität Viadrina in Frankfurt/Oder.

 

Foto: Clem Onojeghuo / unsplash.com