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Zeit und Raum – Gedenkstättenpädagogik im Kontext Ausstieg

Vom Aktionskreis Ehemaliger Extremisten / EXIT-Deutschland. 

Das diesjährige Treffen des Aktionskreis Ehemaliger Extremisten / EXIT-Deutschland fand im Juni in der Gedenkstätte Buchenwald statt. Für zwei Tagen stand ein intensiver Austausch mit Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Gedenkstätte und Personen, die durch EXIT-Deutschland in ihrem Ausstieg begleitet werden, zum Thema Antisemitismus, der historischen Verantwortung und dem persönlichen Umgang mit dem Nationalsozialismus an.

Ideologische Teflonbeschichtung

Nach einer längeren Pause traf sich der Aktionskreis Ehemaliger Extremisten / EXIT-Deutschland in diesem Jahr für zwei Tage in der Gedenkstätte Buchenwald. In einem Vorbereitungstreffen wurden die biografischen Erfahrungen der Ausgestiegenen sowie ihre Bezüge zum Nationalsozialismus und zum Thema Antisemitismus diskutiert. Der Nationalsozialismus war für sie während ihrer Zeit in der Szene identitätsstiftende Erzählung. Dazu gehörte auch die Relativierung oder Leugnung des Holocausts. Eine Auseinandersetzung mit den in der rechtsextremen Szene präsenten Erzählungen fand in ihrer aktiven Zeit jedoch nie statt; sie wurden einfach übernommen und nie hinterfragt. Für einige war es das erste Mal, dass sie eine Gedenkstätte besuchten und sich fernab von leugnender oder relativierender Propaganda intensiv mit den Gräueltaten der Nationalsozialisten auseinandergesetzt haben. Ein Teilnehmer berichtete von einem Besuch in einem ehemaligen Konzentrationslager, das er als noch aktiver Neonazi im Rahmen einer gerichtlichen Weisung besuchen musste. Diese vielleicht gut gemeinte Maßnahme blieb jedoch ohne Effekt, da die betreffende Person sowie die anderen gerichtlich verpflichteten Neonazis nur den Bewährungswiderruf vermeiden wollte. Eine sachliche Auseinandersetzung mit den historischen Tatsachen und eine emotionale Auseinandersetzung mit den Schicksalen fanden nicht statt. Vielmehr wurde die als Pflichtbesuch verstandene Auflage emotional und sachlich abgehakt und die Schilderungen perlten aufgrund der ideologischen ‚Teflonbeschichtung‘ ab. Es war für die betreffende Person weder der Ort noch die Zeit, die eine Auseinandersetzung und persönliche Entwicklung möglich gemacht hätten.

 

„Da ich vor Jahren schon einmal in Sachsenhausen war, dachte ich, ich hätte ungefähr eine Ahnung, was da auf mich zukommt. Aber diesmal war es ganz anders, als die Frau erzählt hat, was damals geschah, da konnte ich mir ungefähr vorstellen, was die Menschen empfunden haben. Die ganze Zeit bei der Führung habe ich das Gefühl der Schuld empfunden, ich kann es nicht verstehen, wie ich das jemals gut finden konnte und es infrage stellen konnte. Ich denke, dass solche Führungen sehr wichtig sind, vor allem für jüngere Jugendliche, bevor sie in der Szene und die Einstellung gefestigt ist. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir das wiederholen könnten und ich danke euch für den Tag. Ich werde mir noch viele Gedanken darüber machen.“

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Das Eingangstor zum Lager

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Status Quo: Antisemitismus

Auch wenn Antisemitismus und die Verherrlichung des Nationalsozialismus zu den Grundpfeilern des aktuellen Rechtsextremismus gehören und relativierende wie auch leugnende Erzählungen zum Holocaust, besungen in Liedern, beschrieben in Texten und durch alltägliche Phrasen und Redenwendungen präsent sind, fand eine tiefergehende Auseinandersetzung nicht statt. Man kannte zwar die Literatur und teilweise die revisionistischen Autoren persönlich, korrigierte und redigierte revisionistische Artikel, tauschte sich mit den Autoren aus und diskutierte unhinterfragt vermeidliche Fakten, teilweise ohne jemals eins der revisionistischen Bücher gelesen zu haben, denn die Bilder und Erzählungen hatten schon verfangen. Sie waren Status Quo, ein ideologischer Status Quo, der von den wenigsten in ihrer aktiven Zeit hinterfragt wurde. Selbst der offensichtliche Widerspruch, den Holocaust als historische Tatsache zu leugnen und gleichzeitig der im Kern antisemitischen eliminatorischen Ideologie des Nationalsozialismus anzuhängen, wurde nicht reflektiert. Wie kann eine historische Tatsache aus der Perspektive des aktuellen Neo-Nationalsozialismus zeithistorisch politisch notwendig und damit richtig gewesen sein, wenn sie aber gleichzeitig nie stattgefunden haben soll. Diese und andere Fragen diskutierte der Aktionskreis am ersten Tag des Treffens und reflektierte die jeweils eigene biografische Rolle in diesem Zusammenhang.

„Das Treffen des Aktionskreis in Buchenwald war für mich sehr interessant, lehrreich und auch sehr mitfühlend. Da ich sehr viel erfahren durfte. Was mich auch sehr zum Nachdenken gebracht hat.  Alleine schon an einem Ort gewesen zu sein, wo so etwas Schlimmes passiert ist. Wie zum Beispiel, dass so viele Menschen sinnlos ermordet wurden. Oder dass es den Tieren, die dort in einem Zoo gehalten wurden, besser ging als den Insassen des Konzentrationslagers.Es ist doch was anderes, als es im Fernsehen zu sehen oder in einem Buch zu lesen.  Daher finde ich es sehr wichtig, dass solche Treffen stattfinden und wiederholt werden müssen.“
_Teilnehmer Feedback

 

Zeit und Raum

Bildung, Erkenntnis und Entwicklung brauchen Zeit und Raum. Die Gedenkstätte Buchenwald bot uns in diesem Zusammenhang beides. Den Raum und die Zeit, diese Fragen zu diskutieren, Perspektiven zu wechseln und Bekanntes zu hinterfragen. Die intensive Diskussion mit Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Gedenkstätte über die aktuelle Situation in der Auseinandersetzung mit Rechtextremismus im Kontext der Gedenkstätte und den Herausforderungen, mit denen die Einrichtung konfrontiert ist, bot darüber hinaus weiteren Raum für Austausch, Reflektion und Erkenntnisgewinn. Dabei ging es auch um die zielgruppengerechte Gestaltung der gedenkstättenpädagogischen Arbeit und der Schwierigkeit bei der Vermittlung der Gräueltaten des Nationalsozialismus und des Holocaust im Hier und Jetzt.

In der sich daran anschließenden Führung über das Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers wurden diese Diskussionen weitergeführt. Und wieder waren es die Zeit und der Raum, die diesen Besuch zu etwas Besonderem und Wertvollem machten. Zum einen die Zeit zu haben, um sich an diesem Ort über gesellschaftliche und individuelle Fragen auszutauschen, über Erfahrungen und Wahrnehmungen zu sprechen und vermeidliche Tatsachen und bekannte Bilder zu hinterfragen. Zum anderen an einem Punkt in der persönlichen Entwicklung zu sein, an dem das Annehmen einer solchen Erfahrung emotional wie auch kognitiv möglich ist. An dem die Übernahme einer anderen Perspektive, die Auseinandersetzung mit der Perspektive der Opfer und Überlebenden erst möglich ist und die persönliche Entwicklung befördern kann. In anderen Worten zu erfahren, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.

 

„Ich bin mit einem eher mulmigen Gefühl dorthin gefahren, weil ich mit meiner Vergangenheit konfrontiert werden würde und ich nicht wusste, was das in mir anstellt. Obwohl das Thema Antisemitismus während meiner aktiven Zeit eine eher untergeordnete Rolle spielte, wie auch die gesamte NS-Geschichte, war ich doch Teil eines Systems, was daran glaubte, dass es den Holocaust mit dem geplanten Massenmord so nie gegeben haben kann.

[…] Es war in meinem ganzen Erwachsenenleben einfach alles zu kurz gedacht. Ich habe es mir einfach gemacht und einen Sündenbock für meinen eigenen Stand gesucht. Aber daran sind nicht andere Schuld, sondern ganz allein ich hatte und habe mein Leben in der Hand. […]

Als Resümee kann ich sagen, dass mir die Fahrt im Sinne der Aufarbeitung meiner Vergangenheit in vielen Belangen ein ganzes Stück weitergeholfen hat. Ich hätte mir gewünscht, dass ich diese Erfahrungen schon vor 20 Jahren hätte machen können. Ich möchte irgendwann einmal im Leben eine Besichtigung der Gedenkstätte in Auschwitz unternehmen. Ich glaube, dass mir dann die menschenverachtende Ideologie dort noch viel begreifbarer werden wird.“

_Teilnehmer Feedback

 

Wir möchten uns an dieser Stelle bei der Gedenkstätte Buchenwald für die Möglichkeit bedanken, dass unser diesjähriges Treffen an diesem Ort stattfinden konnte und sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Zeit genommen haben für eine Begegnung, die auch für sie nicht alltäglich war. Es wird mit Sicherheit nicht das letzte Mal gewesen sein, denn wir wollen die Kooperation fortsetzen, in der auch schon in der Vergangenheit spannende gemeinsame Projekte, wie die Ausstellung „Haut, Stein“, entstanden sind. Vielen Dank im Namen des Aktionskreises Ehemaliger Extremisten und EXIT-Deutschland.

Ein ausführliche Nachbereitung der Veranstaltung ist Bestandteil der Konzeption und wird mit den Ausgestiegenen umgesetzt. Mehr erfahren über unsere Ausstiegsarbeit im Kontext von Gedenkstätten.

 


Podcast zur Ausstellung „Haut, Stein“


Rezension: Haut, Stein