Biografische Klone und andere Anomalien
Rezension: „The Radical’s Journey. How German Neo-Nazis Voyaged to the Edge and Back”
Mit einigen Vorschusslorbeeren wurde 2020 das Buch „The Radical’s Journey“ in der Fachwelt besprochen. Nun hat sich die Aussteigerin Tanja Privenau das Buch etwas genauer angeschaut und ist dabei auf überraschende Erkenntnisse gestoßen. Ihr Fazit: Es bietet Antworten, die noch mehr Fragen aufwerfen.
Von Tanja Privenau.
Die in einem der weltweit führenden Verlagshäuser veröffentlichte Studie von zwei renommierten Wissenschaftlern, Prof. Dr. Arie W. Kruglanski und Prof. Dr. David Webber sowie Daniel Köhler wurde von profilierten internationalen Extremismus- und Terrorismusexperten mit viel Lob und Wohlwollen zur Kenntnis genommen. „This book sets the new standard for evidence-based terrorism research! Based on interviews with former Neo-Nazis, it shows how they joined, stayed, and eventually left this movement. A must read for all people interested in radical movements!“, so Marc Sagemen. Auch Prof. Dr. Preben Bertelsen betont: “An important volume for policymakers and practitioners. Based on semi-structured interviews with 43 former German right-wing extremists, this book offers comprehensive insight into the three phases of radicalization, extremist activities, and the disengagement of German right-wing extremists. We now have an in-depth psychological analysis of the extremist’s journey into extremism and back to mainstream society”. Ähnlich äußerten sich auch andere Fachexperten.
Seit meinem Ausstieg im Jahr 2005 beschäftigen mich wissenschaftliche Erkenntnisse zum Thema Rechtsextremismus. Verschiedentlich habe ich selbst an Forschungsprojekten teilgenommen oder journalistische Arbeiten unterstützt, da es mir ein Anliegen ist, aufgrund meiner eigenen Erfahrungen dazu beizutragen, zu verstehen, warum junge Menschen sich dem Rechtsextremismus zuwenden und was die Gesellschaft tun kann, um eine Abwendung zu fördern.
In diesem Zusammenhang bin ich auf die Publikation The Radical’s Journey aufmerksam geworden. Nicht nur, weil sie einen Überblick über die aktuelle Situation von Gruppen und Strömungen sowie Innenperspektiven über ehemalige Rechtsextremisten versprach, sondern auch einen Blick auf Deutschland, von dem ich mir einen Erkenntniszuwachs erhoffte.
The Radical’s Journey – Ein Überblick
Das Buch ist in zehn Kapitel aufgeteilt, wobei sich die Kapitel 1 bis 3 mit der Entwicklung des Rechtsextremismus sowie spezifischen Erscheinungsformen und Deradikalisierungsprogrammen in Deutschland beschäftigen. Dabei gibt dieser Teil des Buches eine unvollständige Auflistung von Gruppen oder Strömungen, die in Deutschland aktiv sind, wieder. Nach einem Methodenteil, welcher das der Analyse zugrunde liegende 3N-Modell erläutert, folgt die Auswertung von Interviews mit Personen, die aus der rechtsextremen Szene ausgestiegen sind. Dieses Kapitel geht dann näher auf einzelne Phasen in der Entwicklung oder Radikalisierung ein. Die Autoren haben das Kapitel nach einer kurzen Einordnung und den methodischen Grundlagen in vier Phasen unterteilt: Einstieg, Zugehörigkeit, Probleme und Ausstieg sowie Leben danach.
Das Buch schließt mit einer zusammenfassenden Einordnung. Die Autoren erörtern im letzten Kapitel, inwiefern die Erkenntnisse aus der Auswertung der vorangegangenen Kapitel universellen Charakter haben, also über den deutschen Kontext und die historische Erfahrung mit dem Nationalsozialismus in Deutschland hinaus gelten können. Außerdem gibt es Einblicke in die Musik-Szene und Anmerkungen, was aus dieser Analyse für Wiedereingliederungsmaßnahmen abgeleitet werden kann.
Die Interviews
Mit besonderem Interesse habe ich den Bereich der Interview-Auswertungen gelesen. Nicht nur, weil ich diesbezüglich eigene biografische Erfahrungen habe, sondern auch, weil die Perspektive von Ehemaligen in der deutschen Wissenschaftslandschaft meiner Wahrnehmung nach unterrepräsentiert ist. Das Herzstück des Buches ist die empirische Basis, die aus 36 nach bestimmten Kriterien aus dem Archiv des German Institute on Radicalization and De-Radicalization Studies ausgewählten Interviews bestehen soll. Alle Interviews sollen vom Direktor des GIRDS, Daniel Köhler, gesammelt („collected“) oder geleitet („supervised“) worden sein (S. 94). Die Interviewpartner wurden der Studie zufolge zwischen 2010 und 2014 identifiziert und kontaktiert, wobei sie weder Klienten des Interviewführers gewesen seien, noch in einem persönlichen Verhältnis zu ihm gestanden, noch Interessenskonflikte mit ihm gehabt haben sollen (ebd.).
Der erste Eindruck machte mir Hoffnung auf fundierte Erkenntnisse, insbesondere aufgrund der hohen Anzahl von Interviewteilnehmern. Den eben erwähnten Leiter des Institutes, Daniel Köhler, konnte ich in der Vergangenheit schon persönlich kennenlernen. Beim ersten Lesen der Interviews kamen mir einige Erzählungen bekannt vor, besonders bestimmte Situationen und Erlebnisse der interviewten Ehemaligen. Was grundsätzlich nicht verwunderlich ist, da es hier und da Biografien von Ausgestiegenen zu lesen gibt. Verwundert war ich aber, als ich eine Biographie im Buch vorfand, die sich mit meiner eigenen deckt. Aber es konnte ja nicht sein, dass es sich hierbei um eins meiner Interviews handelte, die ich irgendwann mal gegeben hatte, schließlich hatte mich ja niemand gefragt, ob mein Interview für dieses Buch verwendet werden darf. Leider wurden die Zitate im Buch auch nicht zuordenbar gekennzeichnet, was eine Nachvollziehbarkeit erschwert. Da die Informationen anonym sind, war ich zunächst nicht weiter beunruhigt und bin zunächst davon ausgegangen, dass es sich dabei wohl um einen besonderen Zufall handeln muss.
Der Anomalie auf der Spur
Beeindruckt von diesem Umstand widmete ich mich weiter dem Kapitel mit der Interviewauswertung. Immer wieder kamen mir Stellen bekannt vor, letztlich habe ich sechs Stellen gezählt, die ich aus meiner Biografie kannte. Aber es gab noch weitere Erzählungen von Aussteigern und Aussteigerinnen, von denen ich gehört habe, oder die ich selber kennenlernte. Die meisten davon im Rahmen des Aktionskreises EXIT-Deutschland. Was mich dann aber aufhören ließ, war die folgende Passage:
“… a gun was more less put on my head and I was told that if I didn`t (kidnap my grandchild), then they would do it …. I drove to Berlin, which is a city that I have bad memories of. You see we fled the former East Germany, I really didn’t want to go there and that was a problem for me, an indescribable problem. Well, I drove there nonetheless and took my grandson. And then we were on the run, which was absolutely terrible.”The Radical’s Journey S. 186
Auch diese Passage erkannte ich sofort, da diese Geschichte der einer mir sehr vertrauten Person bis auf‘s Haar gleicht: um die meiner Mutter. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt, dass es nur ein für wissenschaftliche Zwecke geführtes Interview mit ihr gibt, welches aber nicht öffentlich zugänglich ist. Also fragte ich meine Mutter – auch wenn ich die Antwort schon kannte –, ob sie für das Buch interviewt wurde. Aber auch hier die Erkenntnis, dass sie weder von dem Buch noch von der mutmaßlichen Verwertung eines mit ihr geführten Interviews dafür wusste. Die Autoren versichern dies aber mit Bezug auf die Auswertung und Einverständniserklärung: “All interviewees were fully briefed about the research scope and use of the material.”. Also musste es sich doch um einen weiteren, wenn auch erstaunlichen Zufall handeln, wenn sich die Ereignisse genauso auch in meiner Familie zugetragen haben.
Nun war mein Interesse geweckt.
My Journey
Ich schaute mir die Interviewpassagen genauer an und meinte, mindestens 14 Personen anhand der biografischen Erzählungen identifizieren zu können. Mit einigen stand ich in Kontakt, also sprach ich sie direkt an. Andere, zu denen ich keinen direkten Kontakt hatte, ließ ich über EXIT-Deutschland kontaktieren. Insgesamt habe ich zehn Personen kontaktiert. Am Ende war klar: Alle zehn Personen, die ich zu erkennen meinte und kontaktieren konnte, bestätigten meine Wahrnehmung: auch sie waren über die identische Ähnlichkeit der Interviewaussagen im Buch und ihren eigenen biografischen Erzählungen oder Aussagen überrascht. Einige der Personen kannten zumindest den Ko-Autor Daniel Köhler persönlich, andere hingegen hatten diese Person noch nie in ihrem Leben gesehen. Insbesondere bei einem Zitat war ich ein weiteres Mal beeindruckt: Die Person, die ihre eigene Aussage in einem Zitat auf den ersten Blick zu erkennen meinte, berichtete mir, dass auch sie nur ein Interview gegeben hatte, in welchem diese Stelle so gesagt wurde. Sie hat darüber hinaus keine weiteren biografischen Interviews gegeben. Das Interview stammt aus dem Jahr 2009. Diese Person hat Herrn Köhler aber noch nie getroffen. Im Buch The Radical’s Journey heißt es zudem: “The interviewees were identified and contacted through snowball sampling (Atkins & Flint, 2001) between 2010 and 2014.“ Also auch hier ein beachtenswerter Zufall.
Zusammen mit einigen Ausgestiegenen fing ich nun an, meine Recherche zu intensivieren, da wir nun wissen wollten, ob es noch mehr biografische Klone von uns gibt.
Wenngleich die zitierten Passagen übersetzt wurden, waren die biografischen Erzählungen so markant, dass sie problemlos zugeordnet und nach Übersetzung teilweise sogar über Google auffindbar waren. Andere Quellen konnten die Interviewten selber nachvollziehen, da sie persönlich für sich die betreffenden Interview-Transkripte aufgehoben hatten.
Somit konnte zusammen mit anderen Ausgestiegenen nachvollzogen werden, dass sich einige Aussagen auf eine beeindruckende Weise mit Interview-Transkripten aus dem Forschungsprojekt namens SAFIRE gleichen. Diese Interviews wurden zwischen 2011 bis 2012 bei EXIT erhoben. Herr Köhler war daran teilweise beteiligt. Das weiß ich deshalb, weil auch ich beteiligt war. Ich sage hier bewusst, dass es sich in den beschriebenen Fällen wohl um erstaunliche Übereinstimmungen handeln muss. Man müsste sie mit den Transkripten der Autoren vergleichen. Um dennoch zu verdeutlichen, worauf sich meine Verwunderung begründet, habe ich hier auszugsweise einen Vergleich der Stellen tabellarisch aufgeführt.
Biografische Klone
Jeder Mensch soll bekanntlich einen Doppelgänger haben. Statistisch gesehen sollen es sogar sieben sein. Letztlich ist aber auch das nicht unumstritten. Wie dem auch sei: Was mir völlig neu war, ist die Tatsache, dass auch Erzählungen und biografische Erfahrungen ihre Doppelgänger haben können. Was uns dann aber wirklich beeindruckte war, dass einige Aussagen ihren Zitat-Doppelgänger in einer völlig unerwarteten Quelle hatten. Einen Zitat-Doppelgänger habe ich in einem Interview mit der Bundeszentrale für politische Bildung gefunden. Über Google – Einfach so. Mit nur drei Begriffen „aussteiger; rechtsextremismus; diskussionsforen“ fand ich den interessanten Artikel bei der BpB. Probiert es aus! Unter dem Titel „Rechtsextremismus ist der große Aberglaube unserer Zeit. Ein Gespräch mit dem NPD-Aussteiger und Mitarbeiter der Aussteigerinitiative EXIT“ aus dem Jahr 2004, schildert dort ein damaliger Mitarbeiter und Ausgestiegener die Arbeitsweise von EXIT. Dabei geht er auch auf seine eigene Biographie ein.
“When I was really low, I came in touch with a website …. Intended to attract right-wing extremists and engage them in conversation. They have chat rooms and discussion forums. This is where I met a dropout from the left-wing extremist milieu who had experienced the same psychological issues himself. We started talking. The website is ideal for people who are on the edge of society or who are thinking further and want out.”
The Radical’s Journey S. 178-179 |
„Als ich in dem seelischen Tief war, bekam ich Kontakt zu einer Internetseite, die sich provokant www.nazis.de nennt, um Rechtsextreme anzulocken und ins Gespräch zu ziehen. Chat-Räume gibt es da und Diskussionsforen. Da traf ich einen Aussteiger aus dem Linksextremismus, der diese ganzen psychischen Vorgänge selbst durchlebt hat. Wir kamen ins Gespräch. Die Website ist ideal für Leute, die vielleicht am Rande der Szene stehen oder die schon weitergedacht haben und raus möchten.“ |
Außerdem hat er sich in der Publikation: EXIT – Ausstieg aus der rechtsextremen Szene „ …dann hab’ ich mir das Hitlerbärtchen abrasiert.“ Bulletin 2/2002 geäußert und u.a. in einem Forschungsinterview. Ich habe drei Zitate in der Studie gefunden, die Zitaten aus den drei genannten Quellen verblüffend gleichen. Bei den Quellen weiß man, es handelt sich um die gleiche Person. In der Darstellung der Studie hingegen entsteht der Eindruck, man habe es mit drei verschiedenen Personen zu tun. Das kommt daher, weil die Interviewpassagen in der Studie nicht nummeriert, kodiert oder irgendwie nachvollziehbar gekennzeichnet sind und den 36 interviewten Personen nicht zugeordnet werden. Ich weiß nicht, ob das für eine wissenschaftliche Studie vielleicht sinnvoll wäre, ich bin ja nicht vom Fach. Aber wir wissen ja, dass der betreffende Aussteiger und die Personen in der Studie nicht die gleichen sein können. Also erkläre ich mir diese bemerkenswerte Übereinstimmung über die Dolly-Theorie der Biografien, eine Erweiterung der Doppelgänger-Theorie.
Wieder andere Aussagen fanden eine erstaunliche Entsprechung in der schon erwähnten Publikation von EXIT-Deutschland. Die zitierten Aussagen passen erstaunlich genau auf Aussagen von drei Personen aus der Publikation: EXIT – Ausstieg aus der rechtsextremen Szene „ …dann hab’ ich mir das Hitlerbärtchen abrasiert.“ EXIT – Ausstieg aus der rechtsextremen Szene. Bulletin 2/2002. Bemerkenswert ist dabei, dass die besagten Personen um die 2000er Jahre ausgestiegen sind, die Erhebung für The Radical’s Journey aber von 2010 bis 2014 stattfand.
Wie ist das möglich? Waren es etwa die gleichen Personen, die sich 10 bis 14 Jahre später wortgleich zu ihrer Vergangenheit äußerten? Oder waren es Doppelgänger, die 10 bis 14 Jahre später genau die gleichen Erlebnisse hatten, die sie zudem wortgleich wiedergegeben haben? Oder waren es vielleicht Wiedergänger? Selbst Graf Welldone wäre spätestens jetzt verwirrt.
Auf welch beeindruckende Art und Weise diese biografischen Klone das gleiche Leben lebten oder, wenn es keine Klone waren, mit welch erstaunlicher Genauigkeit die besagten Personen sich mehr als 10 Jahre später wortgleich einließen, soll dieser Vergleich verdeutlichen.
“I died inside …. My decision was made: you can`t stay here. Even more so because my mother was now also concealing herself under traditional clothes. They always looked like colorful pajamas to me. This, of course, resulted in people talking even more about us and now we really had to run the gauntlet. I made the decision to go, and so I contacted the local youth service office, but they initially refused to help me. I then ran away from home.”
The Radical’s Journey S. 108 |
„Da bin ich innerlich gestorben … Mein Entschluss stand fest: Hier kannst du nicht bleiben. Zumal meine Mutter sich jetzt auch in traditionellen Kleidern hüllte. Es waren für mich immer bunte Schlafanzüge. Die Leute redeten jetzt natürlich noch mehr und das Spießrutenlaufen begann. Ich fasste den Entschluss zu gehen, wendete mich an das Jungendamt, das aber erst die Hilfe verweigerte. Ich riss dann von zu Hause aus.“
10 Jahre Neonazi von Jörg Schneider. In: EXIT – Ausstieg aus der rechtsextremen Szene „ …dann hab’ ich mir das Hitlerbärtchen abrasiert.“ EXIT – Ausstieg aus der rechtsextremen Szene. Bulletin 2/2002 S.35 |
Dem Buch kann man entnehmen: „All interviews were collected or supervised by the Director of the German Institute on Radicalization and Deradicalization (GIRDS) Daniel Koehler, …” und weiter “The interviewees were identified and contacted through snowball sampling (Atkins & Flint, 2001) between 2010 and 2014.“ Das Besondere an diesen Doppelgängern ist aber, dass es sich um Autorenartikel handelt. Insgesamt gibt es in der Publikation 70 eingerückte direkte Zitate. In Bezug auf mehr als 30 konnte ich Doppelgänger finden.
Ein weiteres Beispiel findet sich auf Seite 181 im Buch The Radical’s Journey. Dort wird ein Aussteiger wie folgt zitiert.
„Somebody’s mother held me responsible after her son was arrested for aggravated assault. I was one of the people who had convinced him to join the movement, and, unfortunately he is still involved in it today. … She held me responsible and told me that it was my fault, or at least partly my fault, that her 20-years-old son was in prison and had messed up his life. She kept saying that to my face, and that was another one of those moments. What she said made me feel incredibly ashamed and, for the first time, I saw the victims and everything that had happend the way it really was. Two young man had been beaten up and almost killed for no reason.“The Radical’s Journey S. 186
Bei Anne Leiser, die für ihre Arbeit The Role of Freedom and Identity in the Perceived Experiences of Former Right-Wing Extremists die Interviews des SAFIRE Projektes erhoben und später ausgewertet hat, findet sich auf Seite 10 folgendes Zitat:
„I was also responsible for her son who was in jail in his early twenties and had screwed up his life. And she always told me that to my face over and over again and uhm that was where I felt incredibly ashamed in front of this mother, and for the first time I really saw the victim and the deed how they really were. (Excerpt from Interview 2)“.
Leiser 2012 / S.10
Auf Nachfrage bei EXIT-Deutschland erfuhr ich, dass auch ihnen diese beeindruckende Zufälligkeit aufgefallen ist und nach Rückfrage bei den Autoren hat sich dieser Eindruck verstärkt, so EXIT-Deutschland. Denn auch die Autoren können sich die Übereinstimmungen nur über diese fast schon transzendente Anomalie erklären.
Schlussfolgerung
Spätestens an diesem Punkt konnte ich das Buch nicht weiter rezensieren, ohne auf die erstaunlichen Übereinstimmungen hinzuweisen und dieser Erkenntnis den nötigen Raum zu geben. Denn – und davon muss ich ausgehen – wenn es sich dabei um Zufälle handelt, ist das sehr bemerkenswert und dieser Umstand verdient besondere Würdigung. Denn: Dass zwei Personen so wortgleich biografische Erfahrungen schildern, kann nur bedeuten, dass diese Aussagen als prototypisch für Erfahrungen in der rechtsextremen Szene stehen müssen. Und genau das ist dann auch der Wert des Buches. Offenbar konnten über das Coding biografische Erfahrungen herausgearbeitet werden, die, wie ins Englische übersetzte Dubletten, quasi biografische Doppelgänger anderer Zitate sind. Eine Tatsache, die geeignet ist, die gesamte Wissenschaft auf den Kopf zu stellen. Denn eins ist klar: Die Personen, mit denen ich dazu gesprochen habe und die die gleichen Erfahrungen in ihrem Leben gemacht haben, können es nicht sein. Sie wären ja darüber informiert worden, wenn Interviews mit ihnen für dieses Buch genutzt worden wären. So ist es bei redlicher Wissenschaft, und so haben die Autoren es beschrieben.
Ich für meinen Teil habe viele Antworten in dem Buch gefunden. Leider auf Fragen, die ich nicht gestellt habe. Darüber hinaus sind es Antworten, die noch mehr Fragen aufwerfen. Das Buch sei daher jedem ans Herz gelegt, der sich ein Bild von einer wissenschaftlichen Arbeit von besonderer Qualität machen will. Oder um es mit den Worten von Marguerite Duras zu beschreiben: „Ein Buch lesen – für mich ist das das Erforschen eines Universums.“
Rezension: Arie W. Kruglanski, David Webber, Daniel Koehler: The Radical’s Journey. How German Neo-Nazis Voyaged to the Edge and Back, Oxford University Press, New York 2020
Anmerkung der Redaktion
Daniel Köhler kam im Jahr 2010 als Praktikant zur ZDK Gesellschaft Demokratische Kultur gGmbH. Für seine Masterarbeit über Radikalisierungsprozesse bei Rechtsextremisten wurde ihm die Möglichkeit eingeräumt, mit Personen, die über EXIT-Deutschland ausgestiegen waren, Interviews zu führen.
Bis 2012 war er als freie Kraft im wissenschaftlichen Bereich bei der ZDK Gesellschaft Demokratische Kultur gGmbH tätig und von 2012 – 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt Beratungsstelle HAYAT. Bei EXIT-Deutschland war Daniel Köhler zu keinem Zeitpunkt in der Fallberatung tätig. In den Jahren 2010-2012 hat sich Daniel Köhler mit wissenschaftlichen Fragestellungen der Deradikalisierungsforschung befasst und an einigen Projekten mitgewirkt, deren Ziel es unter anderem war, interviewbasierte Erkenntnisse über die Einstiegs- und Ausstiegsfaktoren zu befördern. Im Sinne der Wissenschaftsförderung und des Transfers zwischen der Fachpraxis und Wissenschaft wurden zwischen 2010 und 2014 von Hochschulabsolventen und Journalisten Interviews durchgeführt, an denen auch Daniel Köhler im Rahmen seiner Tätigkeit in der ZDK Gesellschaft Demokratische Kultur gGmbH beteiligt war.
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Foto: Bru-nO / Pixabay