Gedenken ist nicht genug
Erinnerung muss manchmal wehtun: KZ-Gedenkstättenbesuch mit ehemaligen Neonazis.
Von Fabian Wichmann, EXIT-Deutschland:
Es ist ein regnerischer Dienstag im Januar, als wir gemeinsam mit EXIT-Australien und dem Aktionskreis ehemaliger Rechtsextremisten (AK EXIT) die Gedenkstätte Sachsenhausen besuchen. Es ist ungemütlich: windig, grau, kalt, doch gleichzeitig treiben schon die ersten Frühblüher in diesen letzten Tagen des Januars. Für unsere australischen Kollegen sind alleine die äußeren Umstände schon –mindestens- ungewöhnlich. Auch für uns ist es aber kein alltäglicher Termin, insbesondere im Jahre 2020, in dem das 75-jährige Jubiläum der Befreiung zelebriert wird. Auch wenn es nicht der erste Besuch einer Gedenkstätte mit ehemaligen Neonazis ist, so ist es doch jedes Mal eine surreal wirkende Erfahrung. Man ist an dem Ort, dessen menschenverachtenden Schrecken sie viele Jahre zuvor leugneten und / oder offen huldigten. Man beschäftigt sich mit dem historischen Erbe eines Staates, den sie zutiefst verachteten. Man gedenkt mit ihnen gemeinsam jener unzähliger Opfer, die es für sie in ihrer Zeit als Rechtsradikale nie gab – oder die sie wahlweise einfach als „Kollateralschaden“ betrachteten.
Neben mir, als Mitarbeiter von EXIT-Deutschland, nahmen unter anderem Sven, den wir beim Ausstieg begleiten durften, sowie Matthew und Mathias an diesem Termin teil. Die beiden letztgenannten arbeiten ehrenamtlich für die Organisation EXIT-Australien. Matthew hat diese selbst gegründet, nachdem er viele Jahre zuvor selbst aus der rechtsextremen Szene Australiens ausgestiegen ist. Mathias ist Wissenschaftler und begleitet Matthew nicht nur bei dieser Tour durch das ferne Europa: Auch sonst unterstützt er ihn und die Initiative, wo er nur kann. Etwa bei der Begleitung von Aussteigern. Sie sind gekommen, um die vielen EXIT-Projekte in Europa kennenzulernen, von deren Erfahrungen zu profitieren und sich ein Bild von der Arbeit vor Ort zu machen.
Nicht genug
Schon auf der Hinfahrt diskutieren wir die Shoa und fragen Sven, der in seiner Vergangenheit ebenfalls in der rechtsextremen Szene aktiv war, wie er den Holocaust – die Vernichtung von Millionen von Jüdinnen und Juden aus ganz Europa – damals bewertete. Er brauchte keine Bedenkzeit, die Antwort kam prompt, unverblümt und verstörend: „Damals hätte ich geantwortet: ‚es waren nicht genug‘.“ Die Antwort schockiert in diesem Moment, weil sie angesichts des Schreckens dieses Ortes so fürchterlich real und emotional distanziert wirkt. Aber Sätze wie diese spiegeln nur das Denken in bestimmten Kreisen. Sie umschreiben kurz und erschreckend kalt, wie die Neonaziszene in Deutschland tickt. Wie Hass, Verblendung und Entmenschlichung auch noch heute Triebfedern der Barbarei sind. Und wie wichtig es ist, dem Hass in den Köpfen dieser Menschen etwas entgegenzusetzen.
So standen wir also vor der Gedenkstätte Sachsenhausen. Frontal konfrontiert mit der deutschen Geschichte und den persönlichen Biografien. Beides ist Vergangenheit – und doch so verbunden miteinander. Die Frage, warum wir uns besonders mit diesem Teil unserer Geschichte beschäftigen müssen, wird in diesen Tagen oft gestellt und manchmal kontrovers diskutiert. Ob das überhaupt noch nötig ist. Dabei ist die Antwort so einfach: Ja, wir müssen es! Wir müssen es, weil Geschichte im Kleinen wie im Großen ein Teil von uns ist und wir ein Teil von ihr. Daher sollte es nicht die Frage nach dem ‚Ob‘, sondern vielmehr nach dem ‚Wie‘ sein, mit der wir uns befassen müssen. Doch auch auf diese Frage weiß die Vergangenheit unterschiedliche Antworten: Sven, der in seiner Zeit als Neonazi den Nationalsozialismus und damit mittelbar auch den Holocaust glorifizierte, war an diesem Tag das erste Mal in einer KZ-Gedenkstätte. Als Mittzwanziger mit rechtsradikaler Vergangenheit. Auch, wenn es keinen direkten Zusammenhang zwischen dem fehlenden Besuch der Gedenkstätte und seiner politischen Radikalisierung gibt, so stimmt die Tatsache, dass er sich erst nach seinem Ausstieg mit diesem Thema wirklich konfrontieren musste, doch sehr nachdenklich. Nachdenklich über eine Erinnerungskultur, für die Deutschland doch über seine Grenzen hinweg bekannt sein soll.
Doch es ist zu einfach, die Verantwortung an dieser Stelle abzugeben. Dabei fiel mir eine Geschichte ein, die ich als Schüler mit der Gedenkstätte verband. Ich war als Schüler schon mal hier, in der Gedenkstätte Sachsenhausen. Damals hat es mich zugleich beeindruckt und verstört, gemahnt, aber auch provoziert. Die Dimension habe ich damals kaum erfasst und wohl deswegen meine damalige Direktorin, die die Exkursion begleitete, mit einer im Nachhinein absolut unpassenden Aktion provoziert. Oft musste ich an diesen Moment pubertärer Provokation und Unüberlegtheit denken. Ein Satz so unglaublich unpassend und unüberlegt und dennoch konnte ich die Empörung meiner damaligen Direktorin erst viel später verstehen. Jetzt ist auch er Geschichte und mir fällt auf, es ist nicht die Geschichte, der Ort oder die Bücher, die uns etwas lehren, sondern es kommt darauf an, was wir damit lehren, welche Werte wir vermitteln und welche Schlüsse wir daraus ziehen. Ich hatte in diesem Moment zwar keine Ambitionen, das Gedenken an den Holocaust zu verharmlosen oder zu entwerten – geschweige denn, die Täter in Schutz zu nehmen. Es war mehr eine plumpe Provokation, weil mir Dimension und Verantwortung in diesem Moment nicht klar war, gepaart mit Überheblichkeit, denn ich dachte ich wusste schon alles, habe alles verstanden und stehe doch auf der „richtigen“ Seite. Das war mir damals genug.
Spiegelbild im Wasser
Die Gedenkstätte, die Erinnerungskultur, das aufrechterhalten des Gedenkens an diese Zeit des Schreckens machte allen Teilnehmern die Verantwortung für die Gegenwart deutlich. Der Blick in die Vergangenheit als Spiegel für die Probleme der Gegenwart. Ein Spiegel, der Matthew die Frage nach seiner Verantwortung für die Situation der Indigenen in Australien zeigte und ihm deutlich wurde, dass er auch dort etwas tun kann und letztlich muss. Ein Moment der ihn kurz verwundert innehalten lässt, wie eine Katze die zum ersten Mal ihr Spiegelbild im Wasser entdeckt. Verwundert war er aber nicht über die Tatsache, sondern darüber das er das noch nie früher in Erwägung gezogen hatte, denn in Spiegel schaute er in der Vergangenheit schon öfters.
Heute wie damals, das wird besonders in der Gedenkstätte Sachsenhausen deutlich, kann niemand sagen, man hätte doch nichts gewusst, nichts ahnen können – oder keine Möglichkeit gehabt, etwas zu verhindern. Die Nähe des Konzentrationslagerns zur Großstadt, die strukturelle und ökonomische Verwobenheit und die Identifikation der Stadt mit dem Lagerleben waren zu offensichtlich. Für Matthew und Sven waren die Schritte durch die Gedenkstätte nicht nur Schritte durch die deutsche Geschichte. Für sie waren es auch Schritte durch ihre eigene Geschichte. Eine Geschichte, die als Abschnitt per Definition Vergangenheit ist, als Abschnitt ihres Lebens aber immer Teil ihrer Geschichte bleiben wird.
Diese Gewissheit und das Wissen darum, dass wir die persönliche, wie auch die gesellschaftliche Historie mit all ihren Gräueln im Großen verstehen müssen, um Gegenwart zu gestalten und die Zukunft besser machen zu können, mag banal klingen, wie eine Phrase. Doch in dem Moment, nachdem wir den Schritt aus der Gedenkstätte raus machten, vorbei am Wachturm durchs Tor, sich unser Guide von uns verabschiedete und wir im Wind zwischen den Lagermauer-Replikaten standen, die Geschichte im Rücken hatten, war allen klar: Nur zu Gedenken ist nicht genug.